20 Prozent weniger turnende Kinder: Ulrich Müller will Probleme anpacken

Die Offenbach Post führte eine Interview mit unserem Vorsitzenden Ulrich Müller zu den Auswirkungen der Pandemie für Kinder und Jungendliche in Bezug auf den Vereinssport und welche Funktion der Turngau und die Verbände unterstützend übernehmen.

Pressebericht vom 01.10.2021 in der Offenbach Post

Der Gauturntag ist die Mitgliederversammlung des Turngaus und dient dem Austausch mit den Vereinen. Zuletzt mussten die Treffen pandemiebedingt ausfallen, heute Abend findet er in der Vereinshalle der FT Dörnigheim wieder statt.

Hanau/Offenbach – Ulrich Müller, Vorsitzender des Turngaus Offenbach-Hanau, will dafür sorgen, dass wieder mehr ehrenamtliche Helfer in die Vereine kommen und besonders Kinder wieder turnen können.

Herr Müller, wie wichtig ist es, dass der Gauturntag wieder in Präsenz stattfindet?

Das ist sehr wichtig, weil wir ihn im vergangenen Jahr und Anfang dieses Jahres ausfallen lassen mussten. Somit ist es seit Anfang der Pandemie die erste Präsenzveranstaltung. Wir haben die Zwischenzeit mit digitalen Informationsveranstaltungen überbrückt. So haben wir den Kontakt zu den Vereinen gehalten. Zum Beispiel gab es den Online-Sprungtisch. Dort haben wir den Vereinen zu aktuellen Themen und der Corona-Lage Updates gegeben. Aber es ist in Präsenz ein anderes Arbeiten. Wir erhoffen uns einen aktiven Austausch.

Welche Themen wollen sie gemeinsam mit den Vertretern der Vereine besprechen?

Es gibt zwei Schwerpunkte: Zum einen geht es um die Auswirkungen der Pandemie auf das Vereinsleben mit rückläufigen Mitgliederzahlen und fehlenden Übungsleitern für neue Angebote und wie wir als Organisation gemeinsam mit dem Hessischen Turnverband die Vereine bei der Arbeit unterstützen können. Zum anderen werden wir uns damit beschäftigen, wie wir den Wettkampfbetrieb wieder anlaufen lassen können.

Wie hoch sind die Abmeldungen bei Kindern und Jugendlichen?

Die Mitgliederzahlen sind spürbar eingebrochen. Über alle Jahrgänge hinweg liegt der durchschnittliche Rückgang im Jahr 2020 bei etwa neun Prozent. Eine besonders negative Entwicklung beobachten wir im Bereich des Eltern-Kind-Turnens und des Kinderturnens bis sechs Jahre. Hier haben wir einen ganzen Jahrgang verloren. Der Rückgang in diesem Segment liegt bei über 20 Prozent.

Was sind die Gründe dafür?

In erster Linie liegt es daran, dass es keine Aufnahmen gab. Es gab während der ganzen Zeit keine Angebote. Die Sportverbände stehen jetzt in einem regen Austausch mit dem Land, um Bewegungsangebote insbesondere für Kinder, Kleinkinder und Jugendliche zu schaffen.

Welche Rolle spielen Wettkämpfe bei der Bindung von Kindern und Jugendlichen an die Vereine?

Turnerinnen und Turner wollen sich im Wettkampf mit gleichaltrigen messen. Wir haben auch in diesem Bereich in der Pandemie Online-Angebote geschaffen, die E-Tournaments. Die Trainer können die Übung der Turnerinnen und Turner auf Video aufnehmen und einreichen. Sie wird dann von Kampfrichtern bewertet. Allerdings ist das etwas anderes, als zu einem Wettkampf zusammen zu kommen. Es fehlt der Austausch zwischen den Sportlerinnen und Sportlern. Der soziale Aspekt, das gemeinsame Erleben spielt eine Rolle.

Wann wird es wieder Wettkämpfe geben?

In den Vereinen war ab dem Lockdown im November 2020 bis Mitte dieses Jahres kein regelmäßiges Training möglich - nur ein eingeschränkter Trainingsbetrieb in den Hallen. Das birgt ein erhöhtes Verletzungsrisiko bei Wettkämpfen. Deshalb werden wir ganz langsam mit Testwettkämpfen zum Jahresende starten. Dieses Jahr werden keine Meisterschaften mehr ausgetragen.

Wie kann man sich einen Testwettkampf vorstellen?

Wir fangen mit Vergleichswettkämpfen an auf niedrigen Schwierigkeitsleveln, damit keine hohen Verletzungsrisiken gegeben sind. Mit Meisterschaften, die zu Qualifikationen auf Landes- und Bundesebene führen, werden wir erst im Jahr 2022 wieder loslegen.

Wie unterstützt der Turngau die Vereine dabei, in den Trainingsbetrieb zurückzufinden?

Der Turngau bietet den Vereinen Hilfestellungen, wie sie den Übungsbetrieb insbesondere im Elementarbereich wieder starten können. Die Hessische Turnjugend hat hierzu eine Initiative gestartet, bei der die Vereine durch Arbeitsmaterialien und finanziell unterstützt werden. Außerdem unterstützen wir die Vereine dabei, ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu gewinnen. Es ist nicht nur so, dass der Übungsbetrieb ausgefallen ist. Ohne Aufgabe in der Corona-Pandemie ist der ein oder andere Übungsleiter abgesprungen. Dazu kommt, dass ältere Jugendliche nicht für die Mitarbeit gewonnen werden konnten. Ausbildungen in Präsenz sind ausgefallen. Der Turnverband hat als Ersatz digitale Fortbildungen entwickelt. Die Winter-Akademie des Turnens, die Anfang des Jahres entstanden ist, hat sich erfolgreich etabliert. Mit Öffnung der Sportstätten gibt es wieder Tagesseminare in Präsenz.

Wie sind die Vereine im Bezug auf ehrenamtliche Übungsleiter aufgestellt?

Durch die Pandemie hat sich das Problem von fehlenden Übungsleitern sicherlich verschärft. Einen Mangel hat es vorher aber auch schon gegeben. Wir stellen den Vereinen schon seit Jahren hochwertige Aus- und Fortbildungsangebote bereit. Ich kann die Vereine nur auffordern, diese anzunehmen. Wenn mehr Kinder und Jugendliche in die Vereine gehen, ergibt sich selbstverständlich ein höherer Bedarf an Übungsleitern. Der ist kurzfristig nicht zu decken. Der Turngau schafft zusammen mit dem Hessischen Turnverband Beratungsangebote, um neue, qualifizierte Mitarbeitende zu gewinnen.

Werden jetzt noch mehr Übungsleiter gebraucht, weil weniger aktive Jugendliche im Verein auch weniger potenzielle Ehrenamtliche bedeuten?

Aus den fehlenden Neueinsteigern im Kinder- und Jugendbereich kann man durchaus ableiten, dass der ein oder andere dem Verein künftig nicht für die Nachwuchsarbeit zur Verfügung steht, weil er sich jetzt anderweitig orientiert hat.

Wie fällt Ihre Bilanz für den Gau nach über 1,5 Jahren Pandemie aus?

Ich kann nur eine Zwischenbilanz ziehen. Wir haben bisher die Bestandserhebung zum Jahresende 2020. Ich gehe davon aus, dass auch im ersten Quartal 2021 noch ein Mitgliederschwund zu verzeichnen ist. Die Vereine haben sich – wenn auch mit unterschiedlichen Ansätzen – den Herausforderungen des sportlichen Lockdowns gestellt und digitale Angebote für die Mitglieder erarbeitet. Hierdurch ist es wohl gelungen, den Rückgang im Bereich junger Erwachsener abzufedern. Meine Erwartung geht dahin, dass mit Aufnahme des Sportbetriebs und der Regulierung der natürlichen Fluktuation in einem Verein – es treten immer Mitglieder aus – die Rückgänge reduziert, gestoppt und auch mittelfristig kompensiert werden können.

Was stimmt Sie zuversichtlich für nächstes Jahr?

Der Übungsbetrieb ist bereits wieder sehr gut angelaufen. Ich weiß von Vereinen, dass insbesondere in der stark von Rückgängen betroffenen Gruppe der Kleinkinder eine hohe Nachfrage zu verzeichnen ist. Die Kinder wollen sich bewegen. Die Vereine wollen Bewegungsmöglichkeiten anbieten. Um alle Wünsche erfüllen zu können, unterstützt der Gau die Vereine mit Informationen und bei der Ausbildung. Mit der Ausrichtung des 10. Landeskinderturnfestes im Jahr 2022 in Frankfurt setzen wir ein weiteres Signal für eine Bewegungsoffensive für Kinder.

Das Gespräch führte Theresa Ricke